Teil 1 – Relikte vergangener Tage
Es war so kurz nach Jahreswechsel, als ich aus einer Langeweile heraus bei meiner Lieblingsairline aus Irland nachschaute, ob die nicht wieder so ein tolles Billig-Flugangebot wie im vergangenen Jahr am laufen hatten. Für 19,90 € return beförderte man mich damals nach Gran Canaria und wieder zurück. Wohl das totale Schnäppchen überhaupt. Aber nix vergleichbares war zu haben. Trotzdem verspürte ich nach Stunden der Recherche die Lust, irgendetwas fliegbares zu buchen. Irgendwann landete ich bei Wizzair und es war weniger der günstige Preis der mich trieb die Buchung abzuschließen!
Auch wenn 119 €uronen für ein Rückflugticket durchaus als günstig – nicht aber als billiges Schnäppchen – anzusehen waren, war die angezeigte Destination Kiev ein lange ganz oben auf meinem Wunschzettel stehendes Ziel. Abflugzeiten, fünf Nächte dazwischen und alles im Mai... passt! Gebucht! Und nun mal schauen, was sich da so alles anstellen lässt. Das legendäre Museum am Zhulyani Airport, verschiedene Exponate in der Stadt und die Flugzeughalle der Universität sind abzuarbeiten. Vielleicht noch ein Besuch bei Antonov? Mal sehen.
Zunächst trage ich die gebuchten Daten in meinen handschriftlich geführten Terminkalender ein. Und prompt stelle ich fest, dass das von mir gewählte Wochenende just mit dem UEFA-Championsleague-Endspiel in Kiew „kollidiert“. Na ja, wenn ich so wie so in Kiev bin, brauche ich mir hinsichtlich einer Reise nach Kiev dann ja keine Gedanken mehr zu machen... Was rede ich da eigentlich?!? Ein blödes Fußballspiel sollte für mich nie der Grund einer Reise in die Ukraine sein. Aber nun scheint es so... Dass der Termin reiner Zufall war, glaubt mir doch eh niemand... Aber egal, verbinde ich halt das Angenehme mit dem Nützlichen oder umgekehrt. Hauptsache Dynamo Kiew ist nicht im Endspiel. Das wäre irgendwie blöde (auch wenn es mich glaubhafter machen würde...).
Dass mir neben dem Besuch von Museen und Universitäten nun auch noch Flugzeuge mit Fußballbegeisterten um die Ohren flattern würden, betrachte ich zunächst als einen kleinen aber glücklichen Zufall. Dies allerdings nur so lange, als bis ich bei den einschlägigen Hotel-Buchungsportalen das entsprechende Datum eingebe. Der Schock sitzt tief! Übernachtungsquertiere mit 4-5 Sternen (die aufgrund des günstigen Devisenkurses für €uroländler normalerweise extrem günstig zu haben sind) kosten – gemessen an „normalen“ Terminen - mal eben schlapp das fünf bis zehnfache, zuweilen sogar das fünfzehnfache... Bei den Nobelherbergen, die sonst durchaus akzeptable Preise um die 50 Tacken pro Nacht aufrufen, soll mich das verlängerte Wochenende plötzlich 3.000 € kosten! Ich will die Immobilien doch nicht kaufen!!!
Noch übler schaut es mit den Mittelklässlern aus. 85% ist bei bookingdotcom ausgebucht. Und man freut sich, mir trotzdem für einen schlappen Tausender eine Kammer anzubieten... Einzig die Hostels mit 20-Mann Schlafzimmern im Dreistockbett zeigen sich bemüht, mir etwas Erschwingliches anzubieten. Aber och nöööö; spätestens seit ich vor etlichen Dekaden als Zivi in einer Jugendherberge tätig war, sehe ich in derlei Offerten keine Option. Dann eher Campingplatz...
Campingplätze gibt es wohl in Kiev, aber liegen sie verkehrsgünstig? Und als Handgebäckreisender ist das mit Zelt, Liegematte und Schlafbeutel auch nicht so toll. Oh je, ich sehe mich schon am Airport in der Abflughalle nächtigen... oder unter einer Brücke des Dnjepr... Ein Spezialist muss her! Also bewege ich meinen Hintern in ein Reisebüro, dass sich explizit für Osteuropareisen anpreist. Ich trage mein Anliegen vor, demnach ich fünf Nächte im Mai in Kiew ein Dach über dem schütteren Haupthaar suche. Der wirklich nette Mann mir gegenüber fragt sogleich, ob 40€ pro Nacht ok wären. Weil dann könne er mir das erste Haus am (Maidan-)Platz empfehlen. Für den halben Preis gäbe es aber auch schon nette kleine Hotels die nach westlichen Maßstäben drei Sterne hätten. Ich lasse ihn wissen, dass mir 20 oder auch 40 €uropäer pro Nacht völlig egal seien. Ich will ein Zimmer mit eigenem Chicehaus/Dusche und am Ende nicht verarmen...
Der Mann tippt freudig meine An- und Abreisedaten in seinen Computer. Doch plötzlich wird er etwas wortkarg und bei genauerem hinsehen bekommt er tatsächlich Schweißperlen auf der Stirn. Oh je, gleich kollabiert er, das sehe ich... Er ringt tatsächlich noch um Worte, doch ich erlöse ihn: „Soweit Kollege, war ich auch schon“. „Wie was, das muss ein Fehler sein, da hat jemand die Kommastelle falsch...“ „Nein nein, an diesem Wochenende ist Fußball in Kiev...“ „wie Fußball...“ „Ja, irgend so ein Endspiel“ „...ach ja, Championsleague – oh je...“
Mein Gegenüber überansprucht mit einer kaum beschreibbaren Inbrunst die Tastatur seines Rechners. Aber so sehr er sich auch müht: außer einem Schlafplatz in einem Hostel...
Zum Glück hat der Mann jede Menge Anstand und erklärt die Schlacht als geschlagen. Aber er ist sich nicht zu schade mir einen Tipp zu geben! Ein Tipp – wie er sagt – den er in dieser Situation auch seinem besten Freund geben würde... Ich solle mir auf einer „bookingdotcom“ angeschlossenen Seite für private Ferienwohnungen in der Ukraine etwas suchen und mit dem Anbieter direkten Kontakt aufnehmen. Am besten auf Russisch per Translator. Er selbst könne mir das nicht buchen, aber wenn es Probleme mit der Kommunikation gäbe, dürfe ich gerne zu ihm kommen und er würde mir helfen. Kostenlos.
Ich hatte mir zwar mit Hilfe des Reisebüros eine nette bezahlbare Hotelunterkunft erhofft, aber immerhin empfinde ich es als sehr fair, dass der Mann mir nicht auf Gedeih und Verderb irgendwas superteures unterjubeln wollte. Und somit sitze ich kurze Zeit später am Rechner, bemühe den google-translator und buche mir eine Ferienwohnung inmitten eines Wohngebietes und in Laufweite (unter 3 km) vom Zhulyani Airport. Kostenpunkt pro Nacht: rd 40€. Die Korrespondenz per Übersetzungsmaschine macht mir irgendwie richtig Spaß. Auf jeden Fall dürften Unterkunft und Wohngegend an Authentizität deutlich mehr bieten als ein schnödes Touristenhotel...
Die Tage gehen ins Land und im April erhalte ich aus Ungarn eine email. Die Firma Wizzair teilt mir ganz lapidar mit, dass es eine Flugplanänderung gäbe und man mich bei der gebuchten Reise automatisch auf den nächstgelegenen Flug umgebucht habe. Ich klicke den Link zu „weiteren Details“ an und muss feststellen, dass mein Flug somit schon am Dienstag statt am Donnerstag abgeht. Der Rückflug bleibt unverändert...
Na toll, was für ein Saftladen! Flugzeug nicht voll ausgelastet (oder für Fussballer gewinnbringender nutzbar) und schon ist man der letzte Pfeifenkopf. Das erlauben sich die Iren nicht! Aber andererseits bin ich auch irgendwie froh darüber, dass ich nun plötzlich eine ganze Woche Zeit in Kiew habe. Meinem Vermieter in Kiev teile ich die neuen Daten mit und für eher wenig Geld bestätigt Yuri – so sein Name – mir weitere zwei Nächte in der Ferienwohnung. Es läuft!
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Schon ganz lange habe ich mich auf eine Reise nicht mehr so gespannt gefreut wie auf diese. Entsprechend nervös schaue ich beim Endanflug auf Kiev-Zhulyani aus dem Fenster des fast nagelneuen A320 (HA-LYW). Was hätte man an diesem wolkenlosen Spätnachmittag für tolle Fotos von der Stadt mit ihren vergoldeten Kuppeln und der „Mutter Heimat Statue“ auf dem Hügel hoch über dem Dnjepr machen können... Doch leider habe ich einen Mittelplatz und das kleine Mädchen neben mir am Fenster wollte ich dann doch nicht fragen ob sie für den Anflug mit mir tauscht. So ruhte die Kamera oben im Gepäckfach...
Etwas langwierig gestaltete sich die Sache mit der Immigration. Die Wartehalle mit den Schaltern war nach Ankunft zweier Flugzeuge rappelvoll und die Passagiere einer dritten Maschine mussten erst einmal im Bus verbleiben. Ich kämpfte mich instinktiv zu jener Warteschlange durch, die sich neben dem Schalter für Diplomaten und Crews befand. Denn aus dieser Reihe der Wartendenden wurden auch immer mal wieder Leute zu Diplomaten gemacht, wenn keine echten da waren. Doppelt so schnell wie manch anderer hatte ich meinen Einreisestempel, wechselte in der Ankunftshalle einen braunen €-Schein gegen einen fetten Stapel Ukrainischer Griwna und stand kurze Zeit später vor einer knallbunt bemalten Antonov 24 um diesen als Gateguard dienenden Veteranen von der Abendseite her abzulichten. Aber Pustekuchen. Diverse Verkehrsschilder erlaubten mir nur einen Notschuss schräg von hinten...

UR-47287 at Kiev - Zhulyany
on netAirspace.com

UR-47287 at Kiev - Zhulyany
on netAirspace.com
Doch nun stand aber erst einmal meine Feuertaufe an. Ich hatte mir vorgenommen während meines Aufenthaltes in Kiev weitgehend auf die Verkehrsmittel der normalen Bevölkerung zurück zu greifen. Sprich Taxis und Co waren generell tabu. Und schon hatte ich das erste Problem an der Backe: Busse fuhren derer viele entlang der Strasse ein paar Schritte vor dem eigentlichen Flughafengelände. Grosse Busse, kleine Busse, Busse in denen reichlich Platz war und welche die zum bersten voll waren. Eines hatten sie alle gemeinsam: Die Namen wichtiger Haltestellen wurden in eben jener Schrift angegeben, die ich nicht so recht zu entziffern vermag. Ganz besonders unübersichtlich erschien mir die Beschriftung der Kleinbusse. Dumm nur, dass diese in der Überzahl waren. Was tun? Und wie überhaupt läuft das hier ab? Ich erinnere mich an meinen allerersten Aufenthalt in Manila. Da waren hunderte von Jeepnys und alle waren irgendwie anders beschriftet. Damals war ich wirklich kurz davor zu kapitulieren und ein Taxi heranzuwinken. Aber blieb standhaft und enterte eines was von der Himmelsrichtung her in etwa dort hinfahren könnte, wo ich hin wollte. Auf diese Weise und mit einem gedruckten Stadtplan in der Hand erreichte ich mein Ziel. Wäre doch gelacht, wenn das hier nicht auch klappt. Zumal es ja nur rund drei Kilometer Strecke zu bewältigen galt.
Ich enterte schließlich einen Kleinbus, hielt dem Fahrer einen 100’er hin und wartete ab. Diese gab Gas und reihte sich in den durchaus zügig fließenden Verkehr ein. Wobei er sich offensichtlich weniger um die anderen Fahrzeuge kümmerte, als um die korrekte Abzählung meines Wechselgeldes von 94 Griwna. Nun hatte ich neben einem Stehplatz im proppevollen Bus auch noch einen zweiten fetten Stapel Ukrainischen Geldes. Aber anstatt böser Blicke der anderen Fahrgäste erntete ich mindestens von drei Fahrgästen und dem Fahrer selbst ein halbwegs anerkennendes Lächeln. Später versuche ich mir auszumahlen was wohl sein würde, wenn ein Ukrainer in einem HVV-Bus die Fahrt vom Flughafen nach Langenhorn-Markt mit einem 100 € Schein bezahlen will...
Tatsächlich fuhr der Bus die erhoffte Route und mit Hilfe meiner Google-Maps Ausdrucke fand ich die Nebenstrasse vom Sebastopol-Platz mühelos. Wie vereinbart wollte ich nun meinen Vermieter anrufen, doch leider hatte mein Handy zunächst keinen Empfang. Ehe ich einen erneuten Versuch starten konnte, kam aus dem nächstgelegenen Hauseingang bereits der gute Yuri und begrüßte mich aufs herzlichste. In gutem Englisch entschuldigte er sich, dass er kaum Englisch sprechen würde und bat mich, ihm zu folgen...
Das Treppenhaus machte einen – ich will es mal so ausdrücken – etwas nostalgischen Eindruck. Viel wurde hier wohl außer der mittels Magnetchip zu öffnenden Eingangstür seit Sowjetzeiten nicht gemacht. Aber da auch Yuri in den Fahrstuhl stieg, ließ ich mir nichts anmerken. Dass meine Bleibe wohl keinesfalls den vorab übermittelten Bildern entsprechen würde, war mir spätestens jetzt klar. Aber was war das? Im 4. Stock angekommen wartete schon Yuris Frau Ludmilla in der Tür eines top-modernen, hell und freundlich eingerichteten Apartments um mich zu begrüßen. Gemeinsam machten mich die beiden nun mit den technischen Finessen meines neuen Zuhauses vertraut. Das war auch nötig! Die TV-Geräte in Küche, Wohn- und Schlafzimmer hätte ich vielleicht noch so bedienen können. Den Kombi-Herd/Ofen (wahlweise Elektrisch und/oder mit Gas betrieben) sowie die Waschmaschine mit 48 Programmen würde ich nicht brauchen, aber die elektronisch steuerbare High-Tech-Dusche mit drei verschiedenen Wasserzuführungen (regelbar mit einem Joystick) und allem erdenklichen Trallala bedurfte wirklich einer Einweisung. Vom Großraumkühlschrank über Mikrowelle, Bügeleisen bis hin zum Schuhanzieher war alles vorhanden. Und das in einem Zustand, als wäre ich der erste Mieter.
Wie ich denn vom Flugplatz her gefunden hätte, wollte Yuri wissen. Er habe schon eine Weile Ausschau nach einem Taxi gehalten aber keines gesehen. Und ein Smartphone mit Navi hätte ich ja gar nicht. Ich erklärte ihm, dass ich es seit rund fünf Jahrzehnten gewohnt sei mit auf Papier gedruckten Karten, einem Kompass und ein kleinwenig Orientierungssinn zu navigieren. Und etwas stolz fügte ich hinzu, dass das mit dem Bus dann ja auch nur noch eine Kleinigkeit gewesen wäre. Yuri übersetzte Ludmilla, die ungläubig drein schaute. Als ich dann meinen Busfahrschein präsentierte, verschwand sie wortlos in ihre direkt neben meiner Eingangstür gelegene Wohnung, um Sekunden später mit einer riesigen Schale frischer Erdbeeren zurück zu kommen. Sie überreichte mir die knallroten Früchte und ließ Yuri übersetzen, dass ich mir nun doch erstmal eine Stärkung verdient hätte...
Ein paar offene Fragen bzgl. der Stadt, dem ÖPNV, Einkaufsmöglichkeiten etc. klärte ich noch mit meinen freundlichen Vermietern, dann verabschiedeten sich die beiden und mich plagten ein wenig die Neugierde und der Durst. Die Sonne war längst untergegangen und ich beschloss einstweilen auf Action zu verzichten und die City mit den vielen Restaurants, Bars und Szenekneipen auf jeden Fall heute nicht mehr aufzusuchen. Stattdessen deckte ich mich in einem kleinen Supermarkt mit verschiedenen Brauereierzeugnissen des Landes ein, setzte mich auf eine Bank am nahen Sebastopol-Platz und tat alles um nachhaltig zu entschleunigen. Erfahrungsgemäß gelingt mir das besonders gut, wenn ich einfach nur dasitzen kann und all die Hektik um mich herum einfach nur beobachten darf. Die ersten (von insgesamt 44 neuen) Kronkorken hatte ich schon mal sicher. Jetzt sind die Flugzeuge dran!